Und dann trank sie Wasser. Ihre Zunge lechzte danach und sie sog es gierig in sich ein, fühlte dessen Kühle, dessen Klarheit. Befriedigt wandte sie sich ab und wühlte nach etwas. Es raschelte und zum Vorschein kamen: Kleine Gumminippel, die in ihren Ohren verschwanden. Und mit ihnen der Lärm der Großstadt. Dann setzte ein plötzliches metallisches Surren ein. Die Stahlketten, die die Fenster trugen, verkrochen sich in ihr Schneckenhaus zurück und nahmen dem Raum die frische Kühle des ersten herbstlichen Morgens. Sie nahm von all dem keine Notiz. Die Silikonwürmchen in ihren Ohren bewahrten sie vor all der Ablenkung, sodass sie ganz in ihrer Arbeit versinken konnte. Zettel sortieren. Sie füllte sie mit hartem, kühlem Blau und nahm ihnen ihre Reinheit, ihre Unbeflecktheit. Draußen war Eile geboten, eine Sirene ertönte, der Junge neben ihr lächelte. Doch sie war ganz in sich. Als sie die Bewerbung fertig geschrieben hatte, schenkte sie ihr in einem letzten Akt ihr Konterfei, schwarz-grau-weiß. Die Farben verhalfen ihrer Feminität zu der notwenigen Souveränität. Doch auch ihr Lächeln konnte eines nicht verbergen: Dass sie im Grunde genommen genau so war wie das Foto: schwarz-grau-weiß. Die Gewohnheit, ausschließlich schwarz und weiß zu tragen, hatte sich irgendwann eingeschlichen. Eben so wie dies Gewohnheiten für gewöhnlich tun. Das Grau steuerte nicht ihre Kleidung bei, das Grau steuerte allein sie bei. Seitdem sie – umgeben von Menschen – in ihrer einsamen Zelle der ablehnenden Arroganz vegetierte, war sie grau geworden. Jeden Tag ein kleines Stück mehr. Nun sah sie aus wie ihr Passfoto: Schwarz-grau-weiß. Vielleicht hatte der Fotograph die Farben gar nicht verändert?
Dann ging sie. Der Lärm, der dann einsetze, entging ihr. Der Junge neben ihr schaute nun konzentriert. Die Narbe neben seiner Nase blieb unbewegt. Auch das entging ihr. Sie war weg. Doch die Dinge, die auf sie warteten, verrieten, dass sie wiederkommen würde. Die Dinge hörten erneut die Sirene. Was war passiert? Dann nahm der Verkehr wieder seine übliche Geschäftigkeit auf und das Brummen setzte ein. Es war nie weg gewesen. Legte sich irgendwo das Großstadttreiben, so sorgte es an anderer Stelle dafür, dass nie Ruhe eintrat. Draußen wurde der Ahorn bunt. Ganz allmählich, aber stetig. Gleichzeitig ließ er seine Blätter ziehen und gab damit den Blick auf sein Innerstes frei. Knochige Äste traten hervor. Doch noch würde es dauern, bis Schnee darauf lag. Der Junge trank. Auch er hielt seinen Gehörgang verschlossen. Wollte kein Geräusch. Wollte nur Wissen. Aus Verständnis würde Erkenntnis werden. Das Wasser tat gut. Und so trank auch ich.
Als sie wiederkam waren die Stöpsel in ihren Ohren verschwunden. Sie wollte wieder teilhaben. Gerne hätte sie frei geatmet, frei gelebt. Doch spürte sie die Fessel um ihrer Brust. Sie zwang sie durchzuhalten, weiterzumachen, nicht aufzugeben, nicht zu verlieren. Es zu schaffen. Dann warteten Erfolg und Anerkennung auf sie. Doch nicht, wenn sie aufgab, wenn sie sich nicht zusammenriss. Und so starrte sie weiter auf ihren Bildschirm und gab Geschäftigkeit vor. Das war es, was hier zählte. Kam man später als andere, wurde man belächelt. Ging man vor den anderen, verlor man. Es war ein Spiel. Sie beherrschte es. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken traten, war eines gewiss: Es würde ein goldener Oktober folgen, doch sie würde ihn durch gelbes Glas erleben. Die hochgewachsene, schlanke Frau mit den intelligenten Augen ihr gegenüber inhalierte die Sonne mit ihrem Gesicht. Die Strahlen erhellten ihr Gemüt und gaben ihr Kraft zum Weitermachen. Sie hatte Angst vor ihr.
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