Freitag, 1. Oktober 2010

Ablenkungen II

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Sie saß dort, mit der Körperfront zur Raummitte. Wollte alles überblicken, nicht sehen, was hinter ihr war. Der Morgensonne waren Wolken gefolgt. Die Wolken hatten Tropfen frei gegeben und die Sonne lag nun umhüllt von Wasser im Verborgenen. Verwunderlich, dass sie dennoch da sein sollte. Zuweilen zweifelte ich daran. Als es dämmerte saß sie dort, mit der Körperfront zur Mitte. Die Lampe, Modell KRANICH, spendete ihr Licht. Melancholie vorspiegelnd blickte sie ins Nichts, suchte etwas, fand es nicht. Der Vogel hielt seinen strahlenden Kopf ganz still vornübergebeugt, stand ganz still, krächzte nicht. Sie dankte ihm nicht, sondern blickte trotzig auf den Bildschirm. Der Trotzkopf – als Kind hatte sie dieses Buch geliebt, verschlungen. Nun arbeitete sie mit Büchern, las - tagein, tagaus - Dutzende von ihnen und fand keine Freude mehr an Worten. Draußen fuhr ein Windstoß durch den alten Ahorn und ließ die Blätter leise schaudern. Ihr zartes Lied wurde beinahe vom Schreien des nassen Asphalts überdeckt, der die Autos forttrug, doch konnte man es hören. Sie hörte es nicht. Dank der Stöpsel in ihren Ohren hörte sie nur noch ihren eigenen Körper, die Welt drang nur durch Watte zu ihr hindurch. Die feinen Lieder der rauschenden Blätter stießen nicht zu ihr hervor. Dafür hörte sie das Arbeiten ihrer Organe, kannte sich nun gut. Konnte gar die eigenen Gedanken hören. Und das war gut.

Erst als sie nach draußen sah, bemerkte sie, dass Regen eingesetzt hatte. Er spülte die warme, weiche Luft des Spätsommers fort und brachte verheißungsvolle Klarheit. Sie hoffte, die Klarheit dränge auch in ihr. Sie brauchte sie, wollte Vollendung. Und mit der Klarheit würde Vollendung kommen. Sie nahm einen kühlenden Atemzug und stürzte sich in die Welt der Buchstaben. Der vernarbte Junge neben ihr war weg. Als sie schließlich ging, war noch jemand da. Heute hatte sie nicht gewonnen. Doch morgen, morgen würde sie als erste hier sein und wenn sie ginge, wäre niemand mehr da. Morgen würde sie - umhüllt von Dunkelheit - als Siegerin den Weg in ihr einsames Zuhause antreten, innerlich strahlend vor Glück. Doch ihre Farblosigkeit (und die Tatsache, dass sich an diesem Ort im Grunde nur jeder für sich selbst interessierte) würde verhindern, dass es jemand sah. Trotzdem würde sie Befriedigung spüren.

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Die junge Frau, die mit ihr im grün-gelb-bunten Glaskasten des Wissens arbeitete, hatte sie angesprochen. Ihre Stimme war beruhigend schön. Zu wissen, wer sie war, war schön. Ihren Namen zu kennen nahm ihr etwas von der Angst, die sie durchfuhr, wenn sie hörte wie sie unaufhörlich auf die Tasten einhämmerte. Die Sonne stieg nun nicht mehr so hoch wie sie es noch im Sommer zu tun gepflegt hatte. Sie schaffte es nicht mehr, über den alten Ahorn zu blicken, sondern blieb hinter seinen Blättern verborgen und schickte nur ein paar wenige Sonnenstrahlen durch das gelbe Glas. Ihr Lernenden, ich bin noch da! Zeit nach draußen zu gehen, hatte sie nicht, aber bestimmt fielen bald die letzten Blätter und dann würde das Licht und die Wärme wieder zu ihr hindurch dringen. Sie mochte das im Grunde genommen nicht, fielen die Strahlen doch immer hinterrücks auf ihren Bildschirm und nahmen ihr so die Sicht. Ja, sie schätzte Tageslicht, der KRANICH konnte das nur in begrenztem Umfange ersetzen. Aber eine Überdosis war dann auch wieder zu viel des Guten. Mich störte all das nicht. Mich erfreute die Sonne, ich sog sie ein, speicherte sie für die grauen Tage, die gewiss noch folgen würden. Ich ergötzte mich an der frischen klaren Luft, die durch den Raum strömte, nahm den Sauerstoff in mich auf. Was mich störte war die Einsamkeit, die Gleichgültigkeit, mit der hier gelebt wurde. Es gab keinen Augenkontakt, ein Lächeln wurde nicht erwidert, man blickte durch den anderen hindurch als sei er unsichtbar, nicht da. Ich ahnte, dass es ansteckend war. Sie war ein Meister in all dem und so wollte ich ihr nicht gegenüber sitzen. Es deprimierte mich. Die Arbeit deprimierte mich. Das Desinteresse, die Unbeweglichkeit. Die Arbeit hatte nichts Körperliches. Das fehlte mir. Wie viele Worte soll ein Mensch angeblich täglich sprechen? Ich weiß es nicht, ich sprach nie, aber vermutlich war das hier, die geschriebenen Zeilen, ein Substitut für das in mir gefangen gehaltene gesprochene Wort. Ich musste fertig werden und ins Leben zurück kehren. Deshalb beende ich jetzt hier das Schreiben

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